"Du hast keinen Geschmack!"

(Artikel)
Rian Voß, 10. August 2017

"Du hast keinen Geschmack!"

Gamer und andere Idioten

"Über Geschmäcker lässt sich nicht streiten" ist ein Spruch, den wir schon seit dem Kindergarten zu hören bekommen und der als Floskel gerne immer wieder zieht, wenn es zu Meinungsverschiedenheiten auf reiner Unterhaltungsebene kommt; sei es nun bei Filmen, Musik, Essen oder eben auch Videospielen. Aber selbst wenn wir uns zu Herzen nehmen sollten, dass jeder seinen eigenen Feinschmecker im Kopf sitzen hat, passiert es uns doch nur zu leicht, aus unseren Vorlieben unumstößliche Fakten zu machen. Da gibt es dann dieses eine Spiel, dass einfach so unglaublich gut ist, es wäre quasi ein Verbrechen, es anderen vorzuenthalten. Also quatscht man es allen Freunden auf, starrt ihnen beim Spielen erwartungsvoll ins Gesicht und man freut sich richtig darauf dabei zugucken zu können, wie ihnen die Augen übergehen. Nur dass das nicht immer so passiert.

Dieser Beitrag wurde erstmals am 2.8.2011 veröffentlicht.

Um nach geschmacklichen Verschiedenheiten zu suchen, muss man nicht weit gehen. Allein in unserer Redaktion hat Nex nie Shadow of the Colossus durchgespielt, trotz häufiger Androhung von Gewalt weigert sich Jozu Chrono Trigger anzurühren und Evil boykottiert partout sämtliche PC-Spiele. Auch ich bin nicht sündenfrei, ist mir doch Ocarina of Time zu langweilig, als dass ich noch Lust gehabt hätte, mich durch den Schattentempel zu boxen.
Kann das denn überhaupt angehen? Dürfen wir uns eigentlich Gamer nennen, wenn wir einfach offensichtliche Juwelen nicht wertschätzen können? Aber natürlich! Super, dass ihr fragt!


Ich betrete eigentlich nur ungern den Ring, in dem mit metallgefüllten Handschuhen darum "argumentiert" wird, ob Videospiele nun eine Kunstform darstellen oder nicht, aber es passt gerade so gut - denn egal, für welche Ecke man kämpft, man kann doch eine Parallele zwischen Videospielern und Kunst-Enthusiasten nicht verleugnen: es gibt unheimlich viele Geschmacksrichtungen. Selbst die Koryphäen unter den Kunstkritikern haben irgendwo ihre Schwachstellen, man kann ja schließlich nie alles mögen. Da wird natürlich auf Teufel-Komm-Raus gefaked, wenn es heißt, man soll jetzt diesen berühmten Haufen zusammengelöteter Blechteile in Augenschein nehmen, aber in Wahrheit sieht derjenige nicht ein, was dieser Müll mit Kunst zu tun soll. Das ist noch schlimmer als schlechte Kunst, denn die spielt immerhin noch dasselbe Spiel.
Genauso sieht es auch bei Gamern aus. Manche mögen eben Shadow of the Colossus und manche nicht; anstatt dessen dann aber Splinter Cell oder NOLF. Das ist aber noch lange nicht alles, wäre ja auch viel zu simpel. Als ob man ohne Weiteres akzeptieren müsste, dass Leute verschiedene Geschmäcker hätten, wo kämen wir denn dahin?!

Machen wir aber, bevor wir weiter die Fragen beantworten, wo unsere Geschmäcker herkommen und warum sie okay sind, einen kleinen Schlenker und dreschen auf den armen, kleinen Rian ein. Ich würde nämlich gerne einmal wissen, was ich mir davon verspreche, euch, meine lieben Leser, mit meinen Videospiele-Eindrücken zu versorgen. Die Schnittmenge im Publikum muss doch ziemlich gering sein, denn eigentlich habe ich ja ziemlich quirlige Geschmacksknospen: Ich probiere gerne Dinge aus, die ich noch nicht kenne, obskure Dinge bekommen bei mir dicke Boni, genauso wie schönes Gesplattere und gutes Voice Acting - außerdem wächst mir jedes Spiel ans Herz, bei dem merklich viel Wert darauf gelegt wurde, jeden Aspekt auf die anderen abzustimmen. Doch selbst wenn mal alle Sterne günstig stehen, kann es trotzdem passieren, dass ein Titel voll an meinem Arsch vorbeigeht. killer7 ist ein gutes Beispiel, denn obwohl es von den Leuten ist, die das fabelhafte No More Heroes fabrizierten, ist mir killer7 doch wieder zu befremdlich, als dass ich damit etwas anfangen könnte.

Und was heißt das jetzt für meine Zielgruppe? Im Grunde genommen schreibt man solche Artikel für genau zwei Personen: die mit demselben Geschmack und die, die man an diesen Geschmack heranführen möchte. Es gibt auch Redakteure, die sich auf die oberflächlichsten Eigenschaften eines Spiels beschränken (Alle im Chor: Gameplay, Steuerung, Grafik, Sound, Story, Atmosphäre, Multiplayer), doch diese Reviews sind nichtssagend, ein ungerichteter Rundumschlag und ein direkter Fall für die Tonne.

Zur ersten Personengruppe muss man nicht viel sagen, denn das sind die Leute, die meine Artikel lesen, weil sie wissen, dass unser Geschmack ähnlich ist und sie mir vertrauen. Die habe ich also schon im Sack. Die interessanteren Leute sind aber die, die man dazu bringen möchte, ein Spiel zu spielen, obwohl das nicht ihrem üblichen Klientel entspricht. Das sind die Leute, die auf der Suche sind, ihre Spiele-Sinne mit neuen Bouquets zu versehen, wobei es wichtig ist, in einem Artikel irgendwie zu vermitteln, wie groß der Schritt vom "gewöhnlichen" Vertreter eines Genres zu diesem Titel ist. Einige Leute sind nun mal bereit, sich dem Potential von killer7 vollkommen hinzugeben, andere stehen vor einem Buch mit sieben Siegeln (haha) und müssen erst noch die Schlüssel in anderen Büchern finden. Mein Job ist es ihnen selbst zu zeigen, ob sich der Aufwand lohnt.


Die Frage ist nur, wann man denn bereit ist, sich an eine neue Perle heranzuwagen. Ich habe zum Beispiel mein Möglichstes versucht, um alle Welt an Nier, mein neues Lieblingsspiel, heranzuführen. Dazu ist es aber ohnehin möglicherweise nur aufgestiegen, weil es mit seiner Mischung aus unkonventionellem Storytelling, hypnotisierendem Gameplay, berauschender Musik und hervorragenden Charakteren genau die Form des Schlüssels einnahm, der zum Schlüsselloch meiner momentanen Geschmacksausrichtung haargenau passte. Wer weiß, ob ich vor drei oder vier Jahren genauso über Nier gedacht hätte.
Ich denke, das ist auch der Grund, warum uns bestimmte Spiele, mit denen wir damals (oder vor kurzem?) unseren Einstieg in die virtuelle Welt gemacht haben, so gut in Erinnerung bleiben: Titel wie Mario oder Zelda sind perfekt für Menschen, die noch nie einen Controller in der Hand gehalten haben. Sie treffen genau den Nerv eines "Babygamers" und sind dabei zeitlos genug, um die Spielmechaniken durch die pinke Nostalgiebrille immer noch brillant wirken zu lassen.

Wir sprechen in diesem Fall von einem erworbenen Geschmack. Man kann das sehr gut mit Kaffee vergleichen: niemand mag Kaffee, wenn man ihn zum ersten Mal trinkt. Es ist eine bittere, schwarz-braune Suppe, die anscheinend durch irgendjemandes Unterhose und das Rohr einer stark verdreckten Regenrinne gefiltert wurde. Trotzdem kommen viele Leute irgendwann auf den Dreh, das Zeug immer weiter zu trinken und irgendwann sogar zu mögen. Gehört man zu den Kaffee- oder Teefreunden (ich habe auch lange Zeit gebraucht, um mir Tee anzutrainieren. Norddeutscher, der keinen Tee trinkt lol), dann wirft man in der Gegenwart von Uneingeweihten leichtfertig mit dem Begriff "Banause" um sich, weil derjenige nicht dieses edle Gesöff so sehr wie man selbst zu schätzen weiß.

Um wieder auf die Videospiele zurückzukommen: Wenn ein langjähriger Casual-Spieler sagt, er könne Shadow of the Colossus nichts abgewinnen, dann liegt das nicht daran, dass derjenige einen schlechten Geschmack hat, schon allein weil es keinen schlechten Geschmack gibt, sondern weil er einen ganz anderen Werdegang hinter sich hat. Ja, ich erkenne die Schönheit einer kargen, unbedrohlichen Welt, die einzig durch die Gefahr der riesigen Kolosse gefüllt ist. Ja, ich erkenne die Ironie der Geschichte und ich schätze ihre Wendung. Ja, ich erfreue mich am unkonventionellen Gameplay und erlebe es wie eine frische Brise, während mir der Kampf gegen die CPU jede Sehne in meinem Körper anspannt. Aber wenn jemand diesen erstaunlichen Kaffee nicht mag, muss er ihn dann trotzdem trinken und "Ooooh, aaah, ja, sehr interessant" sagen? Nein, natürlich nicht.
Je mehr man sich auf eine Sache konzentriert, seien es Weine, Kunstwerke im Jugendstil oder Hip-Hop, desto mehr erkennt man die Nuancen. Das kommt ganz automatisch und allmählich findet man heraus, was konzeptuelle Wiederholungen und der Standard sind und man giert stets nach etwas Neuem, was aber trotzdem irgendwie an etwas Bekanntes anschließen muss, weil einem sonst der Kontext fehlt - ein erneutes von Null auf Kaffee in einem Schritt. Hätte ich nicht lange Zeit vorher Action-Adventures gespielt, wären die facettenreichen Unterschiede von SotC oder der einzigartige Blickwinkel von Breakdown im Gegensatz zum normalen Egoshooter vollkommen an mir vorbeigegangen. Aber wäre das schlimm? Nein. Denn an deren Stellen wären andere Spiele getreten, die ähnliche Funktionen in meiner Erlebniswelt eingenommen hätten.

Die Moral der Geschichte ist, dass unterm Strich jeder irgendwo seinen Geheimtipp hat, den absolut keiner verpassen sollte. Ich will soweit gehen zu sagen, dass niemand, der nicht eh schon derbe soziale oder anderweitige Probleme hat, um sein Leben beschissen wird, denn jeder findet Dinge, die für ihn eine Besonderheit darstellen und an die man auch mit Freuden denkt, wenn man im Bett liegt und eigentlich einzuschlafen versucht. Diese Dinge möchte man oft mit anderen Menschen teilen, denn Freude ist der einzige Gegenstand, der sich bei Halbierung verdoppelt. Manchmal muss man aber abwarten, bis diejenige Person auch dazu bereit ist. Wenn ihr also einen Freund habt, der total auf Multiplayer-Shooter steht und einfach nicht kapieren will, was an Beyond Good & Evil so verflucht toll sein soll, dann umarmt ihn und sagt "Das ist schon okay. Ich verstehe es." Rian

Kommentare

Dreed
02. August 2011 um 20:37 Uhr (#1)
ein schöner artikel^^
Rian
02. August 2011 um 21:48 Uhr (#2)
Vielen Dank, freut mich sehr. :)
Kristin
05. August 2011 um 11:56 Uhr (#3)
Hach ja, ein Artikel, der die Welt ein Stück besser machen könnte...
Aber seien wir ehrlich:

Wir sind -alle- beleidigt, wenn wir uns für etwas begeistern, das wir gerne teilen wollen, und der andere dann unsere Hingabe so gar nicht zu schätzen weiß. ;)
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